Der Rechtsstaat ist nichts Selbstverständliches

Bei der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission habe ich ein Grußwort zum Rechtsstaat gehalten.

Wenige Konzepte sind dem deutschen Juristen so vertraut wie der Rechtsstaat. Dass ein Staat bei der Ausübung seiner Macht an Recht und Gesetz gebunden ist, dass die Grund- und Menschenrechte die individuelle Freiheit eines jeden Bürgers gegenüber dem Staat sichern, und dass unabhängige Gerichte über all dies wachen – das entspricht nicht nur dem kleinen 1×1 der Juristenausbildung, vielmehr bildet es das Rückgrat unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung.

Trotz alldem dürfen wir eines gerade nicht tun: Den Rechtsstaat für selbstverständlich erachten. Der Rechtsstaat wie wir ihn heute kennen ist wahrlich nicht gottgegeben. Er ist vielmehr das Produkt einer langen und teils zähen gesellschaftlichen Entwicklung, die sich über einige Jahrhunderte gestreckt hat und bei weitem auch nicht immer gradlinig verlaufen ist. Historiker könnten hierüber wahrscheinlich tagelang referieren. Ich möchte an dieser Stelle nur eine kurze, aber wie ich finde bedeutende Anekdote aus der langen Geschichte des Rechtsstaats herausgreifen: Es ist die Geschichte des Müllers Arnold, die sich in den 1770er Jahren im heutigen Brandenburg zutrug.

Der Müller Arnold war Pächter eine Wassermühle. Die Mühle lag an einem Fluss, der mit der Zeit jedoch immer mehr Wasser verlor. Der Müller konnte dadurch nur wenig arbeiten, seine Einnahmen gingen zurück, bis er schließlich den Pachtzins nicht mehr zu zahlen im Stande war. Die Mühle wurde zwangsversteigert. Hiergegen klagte er vergeblich, in drei Instanzen, bis zum Kammergericht Berlin. Friedrich der Große, der am Schicksal des Müllers Anteil nahm, wollte dem nicht tatenlos zusehen. Überzeugt davon, dass der Müller Arnold im Recht sei, zitierte er die Richter aller drei Spruchkörper zu sich und – nachdem diese von ihrer Rechtsmeinung nicht abrücken wollten – verurteilte sie schließlich höchst selbst zu einem Jahr Zuchthaus in der Zitadelle Spandau.

Was als Geste der Güte und Bürgernähe gedacht war, wandte sich jedoch mit aller Wucht gegen den Monarchen; wurde der Angriff auf die Richterschaft doch als gar zu tyrannisch wahrgenommen. Es handelt sich hier wohl um einen der ersten handfesten Justizskandale, in dessen Folge die Rolle des Königs im Verhältnis zur Judikative grundsätzlich neu überdacht wurde und die Richterschaft begann, sich von der Obrigkeit zu emanzipieren. Das Ergebnis ist bekannt. Man kann daher mit Fug und Recht sagen – dieser kleinen Mühle hat die heutige Bundesrepublik einiges zu verdanken!

Bedrohungen des Rechtsstaates durch die Obrigkeit

Die Geschichte von Müller Arnold mag alt sein. Aktuell ist sie trotzdem. Sie markiert einen Schlüsselmoment in der Entwicklungsgeschichte des Rechtsstaates; einige sprechen gar von der Geburtsstunde der Unabhängigkeit der Justiz. Auch heute tun wir alle gut daran, uns daran zu erinnern. Denn auch heute sind es – leider – zu häufig Angriffe der „Obrigkeit“ – oder wie wir heute sagen würden „der Politik“ – die den Rechtsstaat zu schwächen und zu unterminieren drohen.

Hierbei denke ich zum Einen an unsere europäischen Nachbarn Ungarn und Polen, deren Verfassungsgerichtshöfe nun seit geraumer Zeit Schritt für Schritt entmachtet und als Kontrollinstanz quasi „abgeschaltet“ werden. Da werden Richter in den vorzeitigen Ruhestand versetzt oder gleich entlassen, Sonderkammern geschaffen und zentrale Justizposten mit regierungstreuen Parteisoldaten besetzt. All dies zwar unter großem öffentlichen Aufschrei, der die betroffenen Gerichte aber – jedenfalls bisher – nicht zu schützen vermag. Die letzte Hoffnung ruht derzeit auf den Verfahren nach Art. 7 des EU-Vertrags, die derzeit durch die EU betrieben werden.

Aber auch bei uns in Deutschland gibt sich mittlerweile eine gewisse Sorte von Politikern zu erkennen, die den Rechtsstaat gern Rechtsstaat sein lässt, wenn er gerade als lästig empfunden wird. Zum Beispiel wenn ein als islamistisch eingestufter Gefährder abgeschoben werden soll, aber ein Verwaltungsgericht dies vorerst unterbindet. Der Fall Sami A. hat auf dramatische Weise gezeigt, wozu auch deutsche Politiker und Beamte fähig sind, wenn sie sich moralisch im Recht fühlen und Gerichtsverfahren nur als zeitraubendes Hindernis empfinden. Die öffentlich vorgetragene Forderung des nordrheinwestfälischen Innenministers, die Gerichte mögen sich doch mehr am „Rechtsempfinden“ der Bevölkerung orientieren, setzt dem Ganzen schließlich die Krone auf – der Müller Arnold lässt grüßen.

Vergleichbar in seiner Unsäglichkeit ist nur noch das Gerede von der „aggressiven Anti-Abschiebeindustrie“. Wer Asylanwälte in dieser Weise kollektiv beschimpft, offenbart selbst ein höchst fragwürdiges Verständnis von der Bedeutung von Rechtsschutz und Rechtstaatlichkeit. Er verunglimpft all jene, die Menschen helfen, ihre Rechte wahrzunehmen und damit den Rechtsstaat als Ganzes. So eine Haltung lässt mich gruseln. Sie höhlt die Idee vom Rechtsstaat aus und unterminiert sie von innen.

Rückzug des Rechtsstaates in der digitalen Welt

Tatsächlich gibt es mittlerweile aber auch Räume, in denen der Rechtsstaat schon gar nicht mehr präsent ist. In denen er sich zurückgezogen hat von den Menschen, für die er eigentlich da sein soll; von den Bürgern, deren Freiheiten er schützen und verteidigen soll. Besonders denke ich da an die Herausforderungen, vor die uns die immer weiter zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft stellt.

In der digitalisierten Welt, die von Google, Facebook, Amazon und Twitter beherrscht wird, spielt der Rechtsstaat – jedenfalls derzeit – kaum keine Rolle. Große Konzerne setzen ihre eigenen „community standards“ – verbindliche Regeln für die Nutzer, nach denen sich bestimmt, was veröffentlicht werden darf und was nicht, wer einen Anspruch auf Löschung bestimmter Kommentare hat und wer nicht. Zwischen Meinungsäußerungsfreiheit und Schutz der Persönlichkeitsrechte wägen hier nicht mehr Gerichte ab, sondern „opinion manager“ von Onlineplattformen.

Jede dieser Plattformen berührt unser Leben, jeden Tag, einige fast jede Minute – je nachdem, wie oft man sein Smartphone so in der Hand hat. Ich bin der Meinung: Wir müssen hier dringend einen Weg finden, wie der Staat seiner gesellschaftlichen Verantwortung besser nachkommen und den Rechtsstaat auch im Netz durchsetzen kann. Nur auf diesem Weg lässt sich das Vertrauen der Bürger, die sich an dieser Stelle häufig schutzlos fühlen, auch wieder zurückgewinnen.

Was kann man tun?

Dies ist überhaupt ein Befund, den man leider zu häufig antrifft: Dass der Rechtsstaat beim Bürger nicht mehr richtig ankommt; dass er sich von iustitita zu oft allein gelassen fühlt. Das kann – neben den bereits genannten – noch verschiedene weitere Ursachen haben:

Da ist zum einen die Ressourcenfrage. Wenn Staatsanwaltschaften und Gerichte personell nicht hinreichend ausgestattet sind und Verfahrensdauern überlang werden, dann fühlt sich der Bürger – zu Recht – in seinen Anliegen nicht hinreichend gehört, ja womöglich gar nicht wahrgenommen. Hier ist in allererster Linie die Politik gefragt, die notwendigen finanziellen Mittel zur Ausstattung der Gerichte bereitzustellen. In Hamburg packen wir dieses Thema gerade mit voller Kraft an und haben allein in dieser Legislaturperiode 170 neue Stellen geschaffen.

Eine andere, wie ich finde noch wichtigere Frage, ist aber auch die Frage der Kommunikation des Rechtsstaates und des Auftretens der Justiz. Man kann sagen: Recht ist im Wesentlichen Sprache. Und diese Sprache muss von der Gesellschaft verstanden werden, sie muss bei den Menschen ankommen. Das ist ein Gedanke, den gerade die deutsche Juristerei leider erst noch verinnerlichen muss. Gern versteckt man sich hier hinter Paragraphentürmen und überlangen Satzkonstruktionen, die für Außenstehende nur schwer zugänglich sind. Es muss hier zu einem Umdenken kommen und zwar von allen Beteiligten. Im Gerichtssaal aber auch darüber hinaus sollten Urteile erklärt und verständlich gemacht werden. Wenn Andreas Voßkuhle in diesem Zusammenhang von einer dringend notwendigen „Öffentlichkeitsarbeit“ der Gerichte spricht, so kann ich dem nur beipflichten.

Wir wollen und wir brauchen aber noch mehr als das. Wir wollen den Rechtsstaatsgedanken in den Köpfen der Menschen verankern, ihn greifbar machen. Ich begrüße vor diesem Hintergrund den gestrigen Beschluss des Bundestages über die Schaffung eines „Forums Recht“ in Karlsruhe – einem Ort der – weit mehr als ein Museum – die Menschen ansprechen soll, über die Errungenschaften, Herausforderungen und relevanten Fragen des Rechtsstaats nachzudenken. Auch in Hamburg planen wir – rund um die Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes im nächsten Jahr – ein vergleichbares Projekt, mit dem wir die Bürger in der Staat mit dem Rechtsstaat in Berührung bringen und eine Gelegenheit zum Austausch schaffen wollen.

Einfach ist das nicht. Der Rechtsstaat ist – anders als z.B. die Demokratie – ein Konstrukt das nicht immer leicht zu erklären ist. Seine Bedeutung indes ist fundamental. Um es mit Radbruch zu sagen: “Demokratie ist gewiss ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat aber ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie die Luft zum Atmen.“

Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Der Rechtsstaat hat nicht zu siegen, er hat auch nicht zu verlieren, sondern er hat zu existieren“. Ich befürchte, die Zeiten haben sich geändert. Wir brauchen heute mehr denn je einen Rechtsstaat, der sich stark macht gegen Übergriffe von „oben“. Und der gleichzeitig den Anschluss an die Gesellschaft nicht verliert. Auf meinem Weg zu dieser Tagung bin ich an einem Aufkleber auf der Straße vorbeigekommen. Dort stand: „Keep calm and go to Karlsruhe“. Das ist doch schon einmal ein guter Anfang!

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