Kindeswohl muss an erster Stelle stehen

Bild des getöteten Mädchens Yagmur

Ich durfte bei der 5. Gedenkveranstaltung für Yagmur im Rathaus zum Thema “Kinderschutz und Justiz” sprechen. Die Tatsache, dass die Empfänge der Yagmur Gedächtnisstiftung gemeinsam mit den Bürgerschaftsfraktionen der Grünen, der FDP, SPD, CDU und der Linken und der Patriotischen Gesellschaft von 1765 organisiert werden, zeigt, dass das Thema Kinderschutz die Hamburgerinnen und Hamburger über sämtliche Parteigrenzen hinweg bewegt. Hier können Sie mein Grußwort nachlesen.

“Meine Damen und Herren,

der Titel meiner heutigen Rede sollte eigentlich “Aus-, Fort- und Weiterbildung im Kinderschutz in der Justiz” heißen. Aber wer das Programm aufmerksam gelesen hat, wird sehen, dass die Überschrift nun “Kindeswohl im gerichtlichen Verfahren” lautet. Denn ich möchte mich heute nicht auf die Ausbildung der Richterinnen und Richter im familiengerichtlichen Verfahren beschränken. Ich möchte vielmehr das Leitprinzip in den Mittelpunkt stellen, das Dreh- und Angelpunkt sämtlicher Weiterbildungsmöglichkeiten für Richterinnen und Richter im Bereich des Familienrechts ist. Ich spreche von dem Kindeswohl.

Denn das Kindeswohl ist im gerichtlichen Verfahren von immenser Bedeutung. Es steht deshalb stets und uneingeschränkt an erster Stelle. Im Kindschaftsverfahren sollen die verschiedenen professionellen Beteiligten, das heißt die Familienrichterinnen und Familienrichter, Verfahrensbeistände und das Jugendamt, so zusammenwirken, dass die Lösung gefunden wird, die dem Kindeswohl am meisten dient. In Zweifelsfällen werden qualifizierte Sachverständige hinzugezogen, die mit ihrer Expertise bei der Frage nach der kindeswohlgerechtesten Entscheidung weiterhelfen. Und auch in der persönlichen Anhörung des Kindes nach  § 159 FamFG kommt der Stellenwert des Kindeswohls zum Ausdruck.

Dennoch sehen wir allzu häufig, dass die Rechte und Interessen von Kindern in Gerichtsverfahren – gerade, wenn es um große und mitunter gewaltsame Konflikte in Familien geht – noch immer unzureichend berücksichtigt werden. Die heutige Veranstaltung, an der wir dem gewaltsamen Tod der dreijährigen Yagmur morgen vor genau sechs Jahren gedenken, macht uns dies bewusster denn je.

Erneuerung auch in den Gerichten

Aus diesem Grund ist die Arbeit, die die Enquete-Kommission “Kinderschutz und Kinderrechte weiter stärken” der Hamburgischen Bürgerschaft in den vergangenen Jahren geleistet hat, von so zentraler Bedeutung. Ihre Aufgabe war es zu identifizieren, wie ein umfassender, zuverlässiger und zugleich förderlicher Kinderschutz in Hamburg tatsächlich sichergestellt werden kann. In Ihrem knapp 650 Seiten umfassenden Abschlussbericht hat die Kommission über 70 Empfehlungen zum Kinderschutz und zu Kinderrechten formuliert, die bundesweit auf großes Interesse gestoßen sind. Jetzt kommt es darauf an, diese Ideen aufzugreifen und in entschiedenes Handeln zu übersetzen.

Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Arbeit der Enquete-Kommission aber schon jetzt schon viel bewegt hat. Denn zu ihrer Aufgabe gehörte es auch, die unterschiedlichen professionellen Akteure zusammenzubringen und ein Verständnis für die gegenseitige Arbeit zu schaffen. So erinnere ich mich noch gut an eine gemeinsame Veranstaltung der Justizbehörde und der BASFI vor einiger Zeit, bei der sich Familienrichterinnen- und -richter auf der einen sowie Vertreterinnen und Vertreter des Jugendamts auf der anderen Seite an einen Runden Tisch setzten. Und hier wurde ganz deutlich, dass es doch einige Missverständnisse hinsichtlich der Rolle des jeweils anderen zu klären gab. Denn das Jugendamt ging davon aus, in “einem Team” mit den Richterinnen und Richter zu “spielen”. Diese wiederum konnten jenes Verständnis mit ihrer Verpflichtung, neutral und objektiv zu sein, nicht ohne weiteres vereinbaren. Seitdem sind wir einen weiten Weg gekommen. Denn in  sich anschließenden zahlreichen Gesprächen haben das Jugendamt und die Familienrichterinnen und -richter Bewusstsein und Verständnis für die Rolle des jeweils anderen entwickelt. Ein wichtiger Lernprozess, von dem die Zusammenarbeit im familiengerichtlichen Verfahren bereits jetzt sehr profitiert und der Grundlage für die seither regelmäßig stattfindenden, wechselseitigen Hospitationen zwischen Familiengericht und Jugendamt war.

Rede von Dr. Till Steffen bei der Yagmur Gedenkveranstaltung im Rathaus
Rede bei der Yagmur Gedenkveranstaltung im Rathaus

Lebenslanges Lernen in der Justiz

Aber der verstärkte Austausch mit dem Jugendamt ist nicht die einzige Empfehlung, die die Enquete-Kommission für die Hamburger Justiz ausgesprochen hat. Entscheidend ist zudem, dass die zuständigen Richterinnen und Richter über umfassende Kenntnisse – auch über die Bereiche des Rechts hinaus – verfügen, um die komplexen Fragen des Kindeswohls richtig beantworten zu können. Deshalb hat die Kommission in ihrem Abschlussbericht vorgeschlagen, eine Fortbildungspflicht für Hamburger Familienrichterinnen und -richter zu etablieren. Und dieser Empfehlung möchten wir als Justizbehörde nachkommen. Deshalb haben wir bereits im Sommer einen entsprechenden Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht. (zum Beschluss der Bürgerschaft)

Der Entwurf sieht vor, das Hamburger Richtergesetz um eine Fortbildungspflicht zu ergänzen. Aber die Pflicht soll nicht nur für diejenigen Kolleginnen und Kollegen gelten, die im Familienrecht tätig sind. Denn Fortbildungen sind für sämtliche Richterinnen und Richter von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, stetig komplexeren Verfahren, europarechtlichen Vorgaben oder hochspezialisierten Rechtsanwälten gewachsen zu sein. Ich bin zuversichtlich, dass die Erneuerung auch in den Gerichten auf Zustimmung stoßen wird. Denn nicht nur hat die Fortbildungspflicht im Umkehrschluss zur Folge, dass die Richterinnen und Richter künftig auch einen Anspruch auf ein attraktives Fortbildungsangebot haben. Die Hamburger Richterschaft gehört darüber hinaus bereits jetzt zu den fortbildungsfreudigsten der Republik. Die Auslastung des bestehenden Fortbildungsprogrammes liegt regelmäßig bei fast 100 Prozent. Damit gehört Hamburg länderübergreifend zu den vier Bundesländern mit der höchsten Quote.

Einarbeitungsphase erleichtern

Aber die Fortbildungspflicht ist natürlich nur der äußere Rahmen. Damit wir auch in der Sache sicherstellen, dass unsere Richterinnen und Richter laufend etwas dazu lernen und ihren Horizont stetig erweitern, müssen wir zugleich für ein auf die Bedürfnisse der Richterschaft zugeschnittenes Fortbildungsangebot sorgen! Deshalb haben wir konkret für den Bereich des Familienrechts 100.000 € in die Hand genommen, um ein neues Fachkonzept für Fortbildungen im Familienrecht zu etablieren. Die Reihe richtet sich insbesondere an Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger sowie Richterinnen und Richter, die ins Familienrecht wechseln, und soll ihnen durch gezielte Fortbildungsangebote die Einarbeitungsphase erleichtern.

Start der Modulreihe ist im Januar 2020. Dabei werden Kindschaftssachen mit sechs von 21 Modulen eine zentrale Rolle einnehmen. Neben den rechtlichen Aspekten werden insbesondere kinderpsychologische Grundlagen sowie Bindungslehre und Kindeswohlgefährdungen ausführlich behandelt werden. Ein interdisziplinärer Teil widmet sich der Arbeit des Jugendamtes und auch der Besuch einer stationären Jugendhilfeeinrichtung steht auf dem Programm. Außerdem soll, wie auch schon in diesem Jahr, wieder eine von einem Psychologen geleitete Fortbildung zur richterlichen Kindesanhörung stattfinden. Schließlich ist auch die Qualität psychologischer Gutachten im Familienrecht Fortbildungsgegenstand. Und dieses Programm werden wir bei entsprechendem Bedarf regelmäßig fortlaufend ausbauen.

Aber nicht nur das: Im kommenden Jahr wird der sogenannte Nordverbund, der regelmäßig Fortbildungen für Richterinnen und Richter der nördlichen Bundesländer veranstaltet, insgesamt sechs statt bislang nur zwei mehrtätige Fortbildungen zum Thema “Kindeswohl im gerichtlichen Verfahren” anbieten. Eine Thematik, die im Übrigen auch bei den Tagungen der Deutschen Richterakademie einen Schwerpunkt bildet. So sind zwei der insgesamt sechs von Hamburg ausgerichteten Tagungen der Akademie familienrechtlicher Natur. Und auch hier zeigt sich wieder die Fortbildungslust unserer Hamburger Richterinnen und Richter: Denn sie nehmen überproportional häufig an den angebotenen Tagungen der Deutschen Richterakademie teil.

Kinderrechte gehören ins Grundgesetz

Was die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Richterinnen und Richtern im Bereich des Familienrechts anbelangt, sind wir auf einem guten Weg. Gleichzeitig ist jedoch klar, dass diese Initiativen nur ein Baustein von vielen sind, wenn es darum geht, die Rechte von Kindern in unserer Gesellschaft effektiv zu schützen. Denn dafür bedarf es noch mehr. Und das führt mich zu einem Thema, das bereits bei der Gedenkveranstaltung vor einem Jahr im Mittelpunkt stand. Damals trug die Veranstaltung die Überschrift: “Kinderrechte im Grundgesetz verankern”. Ein Thema, das heute, mit dem erst vor wenigen Wochen veröffentlichten Entwurf des Bundesjustizministeriums, aktueller denn je ist.

Meine Haltung zu diesem Thema ist ganz klar. Sie lautet “Rein da!”. Kinderrechte gehören ins Grundgesetz. Nicht nur hinkt unsere Verfassung bezogen auf die Stellung von Kindern der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinterher. Es spiegelt sich zudem an keiner Stelle wider, dass Kinder eigene, von denen der Erwachsenen zu unterscheidende, unabhängige Rechte haben. Denn: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen! Auch nach der UN-Kinderrechtskonvention muss bei allen Angelegenheiten, die ein Kind betreffen, das Kindeswohl immer vorrangig berücksichtigt werden. Wir haben somit wesentliche Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention trotz jahrelanger politischer Auseinandersetzungen bis heute nicht umgesetzt.

Vor diesem Hintergrund war es mehr als begrüßenswert, dass sich die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag für eine Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz und die Einrichtung einer Arbeitsgemeinschaft aus Bund und Ländern geeinigt hatte. Letztere sollte bis Ende dieses Jahres einen Formulierungsvorschlag erarbeiten.

Was in dem von der Bundesjustizministerin vor kurzem veröffentlichten Gesetzesentwurf nun dabei herausgekommen ist, ist jedoch umso enttäuschender. Der Vorschlag sieht vor, Art. 6 GG einen neuen Absatz 1a hinzuzufügen, wonach jedes Kind das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft hat. Das Wohl des Kindes sei bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, “angemessen” zu berücksichtigen. Und jedes Kind habe bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.

Bei dieser Formulierung handelt es sich um reine Symbolpolitik, die keinerlei Mehrwert in Sachen Kindesschutz mit sich bringt.

Mit der Festlegung auf eine nur “angemessene” Berücksichtigung des Kindeswohls hat Frau Lambrecht den schwächsten von drei Vorschlägen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe aufgegriffen. Sie hat sich damit gegen die Alternativvorschläge für eine “wesentliche” oder gar “vorrangige” Berücksichtigung des Kindeswohls entschieden. So fällt der Entwurf hinter die Vorgaben der Kinderrechtskonvention zurück, die – wie bereits erwähnt – ausdrücklich vorsieht, das Kindeswohl in den benannten Fällen stets „vorrangig“ zu berücksichtigen. Dies könnte im Ergebnis sogar eine Schwächung der Kinderrechte zur Folge haben, denn der klare Impuls aus der UN-Kinderrechtskonvention droht, dadurch abgeschwächt zu werden. Zudem darf die Orientierung am Wohl des Kindes nicht auf einzelne Teilaspekte beschränkt werden. Sie muss vielmehr für alle Fragen und Probleme gelten, die Kinder insgesamt angehen. Und schließlich hat die Bundesjustizministerin die Rechte von Kindern auf Teilhabe auf die tatsächlich bereits vorhandenen Rechtsnormen zur Anhörung beschränkt. Erforderlich ist jedoch ein echtes Mitspracherecht von Kindern bei allen sie betreffenden, staatlich gelenkten Angelegenheiten.

Jedes Kind hat Rechte

Wir wollen ein Land, das allen Kindern die bestmöglichen Startchancen gibt, indem es Schutz und ein gutes Aufwachsen garantiert. Ein Land, das Kinderarmut nicht mehr toleriert. Ein Land, in dem wir nie wieder Schlagzeilen wie jene, die Anlass der heutigen Veranstaltung ist, lesen müssen. Wir wollen ein Land, das Kinder zu selbstbewussten, selbstbestimmten und gleichzeitig gesellschaftsfähigen Menschen macht und in dem Kinder von klein auf ernst genommen werden. Wo sie ganz praktisch lernen, in sie betreffenden Fragen ihre Meinung zu äußern, die dann auch Gewicht hat, egal ob es um den Bau der Straße vor der Haustür oder um familiengerichtliche Verfahren geht. Das Land, das wir wollen, gibt allen Kindern und Jugendlichen den gleichen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, unabhängig davon, welchen Pass sie haben. Hier muss gelten: Ein Kind ist zuallererst Kind. Und jedes Kind hat Rechte. Unsere Verfassung ist ein guter Ort, um die Voraussetzungen für ein solches, kinderfreundliches Land zu schaffen. Allerdings nur, wenn die Kinderrechte dort tatsächlich stark gemacht werden. Der jetzige Vorschlag der Bundesregierung tut dies leider nicht.”

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