F.A.Z. EINSPRUCH EXKLUSIV vom 14.07.2023 -Abgeordnetenrechte: Länger lesen für weniger Einfluss?

Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem Stopp des Gebäudeenergiegesetzes aufgrund der Abgeordnetenrechte Neuland betreten. Die Entscheidung könnte für die Parlamentarier im Bundestag auch Nachteile haben.

Die Karlsruher Richter haben in ihrem Beschluss ihre bisherige Zurückhaltung aufgegeben, sich in einzelnen Fragen in die Selbstorganisation des Bundestages einzumischen. Der Gesetzgebungsprozess verlief im Einklang mit allen Regeln der Geschäftsordnung des Bundestages. Gleichwohl sah das Gericht die Gefahr der Verletzung der Rechte einzelner Abgeordneter. Damit stehen Maßgaben im Raum, die über die bisherige Geschäftsordnung hinausgehen. Das Gericht misst einer Beschwerde Erfolgsaussichten zu, die den Zeitpunkt der Vorlage eines Änderungsantrages moniert, was letztlich massive Auswirkungen auf die Einflussmöglichkeiten einzelner Abgeordneter auf die Gesetzgebung haben könnte.

Das Gericht betont zu Recht: Jeder Abgeordnete hat nicht nur das Recht, abzustimmen. Er muss auch wirklich verstehen können, worüber er abstimmt. Wichtig ist aber auch: Wenn ein Parlamentarier erkennt, dass ein Gesetz nicht gut ist, muss er die Möglichkeit haben, Änderungen einzubringen. Jede Beschränkung dieser Möglichkeit stärkt den Regierungsentwurf. Niemand wünscht sich Abgeordnete, die am Ende informiert, aber einflusslos sind.

Richter schon länger unzufrieden

Den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts treibt offenbar schon eine Weile die Sorge um, dass Gesetze teils mit ungebührlicher Eile entstehen. Dies war bereits in der mündlichen Verhandlung über das Gesetz zur Parteienfinanzierung erkennbar, mit dem sich die große Koalition in einem überfallartigen Verfahren kurz vor der Bundestagswahl 2021 einen ordentlichen Schluck aus der Pulle genehmigen wollte.

Es ist richtig, dass es immer wieder Gesetzgebungsverfahren gibt, bei denen extrem wenig Zeit bleibt, die Vorschläge eingehend zu bewerten. In aller Regel hat sich aber bewährt, als Mindeststandard drei Sitzungswochen für die Beratung einer Vorlage vorzusehen. In der ersten Sitzungswoche findet die Erste Lesung mit einer Debatte im Plenum statt, die zweite Sitzungswoche wird für eine Anhörung genutzt, und in der dritten Sitzungswoche werden dann die Schlüsse aus der Anhörung gezogen und das Gesetzgebungsverfahren wird abgeschlossen. Da immer höchsten zwei Sitzungswochen direkt aufeinanderfolgen, ergibt sich so ein Beratungszeitraum von mindestens vier Wochen.

Es kann Gründe geben, dass der Bundestag das Verfahren deutlich beschleunigt. Als Russland kein Gas mehr lieferte, musste schnell gehandelt werden. Ebenso zu Beginn der Corona-Pandemie. Damals wurde sogar infrage gestellt, ob das Parlament wegen der gebotenen Eile bei den zentralen Weichenstellungen einbezogen werden kann. Richtigerweise hat der Bundestag hier seine Verfahren abgekürzt und die Pandemiebekämpfung zum Gegenstand parlamentarischer Entscheidungen gemacht.

Wer entscheidet über Abläufe?

Diese Abwägung – wann muss ein in der Regel sinnvoller Beratungszeitraum unterschritten werden – muss in den Händen des Bundestages selbst liegen. Bisher hat das Bundesverfassungsgericht immer betont, dass es die Organisationshoheit des Verfassungsorgans Bundestag respektiere. Der Beschluss zum Gebäudeenergiegesetz gibt Anlass zur Sorge, dass das nicht mehr gelten soll. Der Bundestag muss selbstbewusst für sich in Anspruch nehmen, eventuell erforderliche Korrekturen an seiner Geschäftsordnung selbst vorzunehmen und sich diese nicht vom Gericht vorschreiben zu lassen.

Die Voraussetzungen sind günstig: Alle Fraktionen kennen noch gut die jeweils andere Rolle im Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition. Sämtliche Änderungen wirken sich auf beide Seiten aus. Die ohnehin laufenden Diskussionen über die Überarbeitung der Geschäftsordnung des Bundestages bieten eine gute Gelegenheit, als Parlament selbst zu handeln.

Entscheidend ist für die Frage, ob einzelne Abgeordnete auf den Inhalt von Gesetzgebung wirklich einwirken können, die Ausschussarbeit. Hier ist es möglich, der Regierung Fragen zu stellen, und hier können konkrete Anträge eingebracht werden. Anhörungen können genutzt werden, um bestimmte Argumente zu stärken oder andere zu widerlegen. Die Rollen zwischen Opposition und Regierung sind hier bei Weitem nicht so stark getrennt, wie sich das im Plenum darstellt. Oftmals wird in der Ausschussarbeit auch innerhalb der Regierungsmehrheit gerungen, was wiederum gute Gelegenheiten für Oppositionsabgeordnete bietet, sich ins Spiel zu bringen.

Zeit fehlt an anderer Stelle

Produktive Ausschussarbeit kann durch ein zu hektisches Gesetzgebungsverfahren leiden. Wenn Änderungsanträge erst wenige Minuten vor der Ausschusssitzung vorliegen, liegt auf der Hand, dass sie nicht mehr ausreichend gelesen und geprüft werden können. Wenn Anhörungen in der gleichen Woche stattfinden wie der Abschluss des Verfahrens und wenn Sachverständige sich nur kurz vorbereiten können, stellt das den Sinn von Anhörungen infrage.

Die Ausschussarbeit kann aber auch durch eine zu starke Formalisierung lahmgelegt werden.

Für relevant hielten die Karlsruher Richter den Vortrag des Antragstellers, dass die im Laufe des Verfahrens vorgenommenen Änderungen sehr weitreichend seien. Wenn man jetzt aber daraus eine längere reine Lesefrist ableiten würde, so würde der einzelne Abgeordnete eben nicht gestärkt, sondern empfindlich geschwächt. Schließlich soll er sich nicht nur informieren, sondern auch die Möglichkeit erhalten, etwa mit Änderungsanträgen darauf zu reagieren. Längere Fristen nehmen Zeit für das Erarbeiten solcher Anträge und wirken damit strukturell zugunsten der Beibehaltung eines Regierungsentwurfs. Betroffen wären Regierungsmehrheit und Opposition gleichermaßen, schließlich müssten Fristen für alle gleich gelten.

Dr. Till Steffen ist Volljurist und Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion. Quelle: F.A.Z. Einspruch https://www.faz.net/einspruch/abgeordnetenrechte-laenger-lesen-fuer-weniger-einfluss-19035103.html

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